Pierre-Auguste Renoir (1841-1919)
Der Nachmittag der Kinder in Wargemont, 1884
Öl auf Leinwand; 127x173cm
Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin



    "Nachmittag der Kinder... In einem behaglich eingerichteten Zimmer sind drei Kinder versammelt: die zehnjährige Marguerite, die vierjährige Lucie und ihre große Schwester Marthe. Marthe näht - man könnte sie ihrer aufrechten Haltung und Statur wegen für älter, möglicherweise für das Kindermädchen halten. In Wirklichkeit ist sie damals eben vierzehn Jahre alt.
    Marthe, Marguerite und Lucie sind die drei Töchter des Diplomaten Paul Bérard, der mit dem Maler des Bildes, dem berühmten französischen Impressionisten Auguste Renoir (1841-1919) eng befreundet war. Er lud ihn häufig auf sein Landgut Wargemont in der Normandie ein, wurde sein Bewunderer und Gönner. Für ihn hat Renoir dieses Bild eines Kindernachmittags in Wargemont 1884 gemalt.
    In der linken Bildhälfte sind die Blautöne reich vertreten, in vielen Abstufungen sieht man sie im Umkreis der lesenden Marguerite: blau sind ihr Pullover und ihre Strümpfe, blau das Buch, in dem sie liest, und blaukariert ihr Faltenrock. Licht- und graublau ist die Täfelung der Wand, blau der Fenstergriff am blaugestrichenen Holzrahmen, der Bezug des hochlehnig geschweiften Sofas ist blau und blau der Schatten, den es auf den Fußboden wirft...
    Diese kühlen Blautöne bilden in ihrer Gesamtwirkung um das lesende Mädchen herum eine eigentümlich abgeschlossene Sphäre. Marguerite liest. Sie läßt sich nicht stören, sie blickt nicht auf - sie liest. Sie hat sich allein auf dem großen Sofa eingerichtet, auf dem noch viel Platz ist, und ist in das blaue Buch vertieft, das mit zwei grünen Samtbändern verschlossen werden kann - eine Besonderheit. Ein besonderes Buch. Durch die innere Abgesondertheit von den anderen, durch die ihr zugeordnete Farbe befindet sich das lesende Mädchen zwar im gleichen Raum, im selben Zimmer - aber doch in einer anderen Welt!
    Ganz im Gegensatz dazu die Gruppe der ältesten und der jüngsten Tochter. Beide haben eine innige Beziehung zueinander. Die kleine Schwester hat ihre schleifengeschmückte Puppe auf den Schoß der großen gesetzt und läßt sich augenscheinlich etwas von ihr nähen, ein Tuch, ein Puppenkleid.
    Auch die vierjährige Tochter ist blau gekleidet, trägt ein Matrosenkleid mit weißer Schärpe, und auch die Blumenschale leuchtet blau in diesem Teil des Zimmers.
    Dennoch herrschen hier die Rottöne vor: Rot sind die Begonien in der Schale, rotgestickt die Blüten und Borten des indischen Musselinvorhangs am Fenster, rot ist die Farbe des kaukasischen Teppichs, der den Tisch bedeckt. Rot leuchten Gürtel und Strümpfe, die Bänder am Nähkorb und die Schleife am Zopf der nähenden Marthe im rotgepunkteten, bauschigen Voilekleid.
    Nachmittag der Kinder in Wargemont...
    Eine friedliche Ruhe liegt über dem Bild. Kein Lärm, kein Mißklang dringt in den lichterfüllten Raum. Vor dem Fenster setzt die Sonne helle Flecken auf die Wiese. Im Innern des Hauses sind Helligkeit und Wärme noch zu spüren.
    Das große Bild ist eines der bedeutendsten Gruppenporträts von Renoir und das Hauptwerk seiner sogenannten 'klassizistischen' Periode, die ihn von der rein impressionistischen Malweise hinwegführte zu einer stärkeren Modellierung der Personen und einer schärferen Konturierung der Dinge im Raum."
    (Gersdorff, Dagmar v.: Kinderbildnisse aus vier Jahrtausenden. Berlin, 2.Aufl.1989, S.80 - gekürzt)