Peter Kraft
Münster, im März/April 1994

Gedanken zum Konzept einer Ausstellung zu Kindheitsdarstellungen in der bildenden Kunst

Vorbemerkungen

Die Fülle von Motiven zum Arbeitsthema KINDERWELTEN, die zunächst nicht erwartet wurde, macht es erforderlich, darüber nachzudenken, ob überhaupt (nämlich unter diesem Titel) bzw. in welcher Weise eine Präsentation möglich sein könnte. KINDERWELTEN hat sich zwar als brauchbar für die Auswahl von Motiven erwiesen, aber dieser Begriff stellt keine Kategorien (mehr) zur Verfügung, mit deren Hilfe einzelne Bilder ausgewählt bzw. verworfen werden könnten.
Die ursprüngliche Absicht, Kinderwelten zu präsentieren, reduziert sich entweder auf die (aus dem Begriff KINDERWELTEN nicht zu legitimierende) Auswahl einiger Bilder oder ertrinkt in der vom Anspruch her umfassenden (gleichwohl trotzdem in der Realisierung lückenhaften) Darstellung durch Bilder aus fünf Jahrhunderten.

Ich benutze für die folgenden Überlegungen eine Gliederung, die sich mir im Verlauf der Motiv-Recherche bzw. bei der sich daran anschließenden Phase der Sichtung und Katalogisierung des Materials entwickelt hat:

Bilder vermitteln sich über eine dreifache Geschichte:
  • Bilder machen Geschichte
  • Bilder haben eine Geschichte
  • Bilder erzählen eine Geschichte
Da ich Bildern in Museen, in Ausstellungen begegne, ergibt sich ein vierter Aspekt:
  • Bilder hängen in Ausstellungen

Abschließend ist - vor allem auf der Basis der zwischenzeitlich erfolgten Recherchen - noch einmal grundsätzlich über den Begriff 'Kindheit' nachzudenken.

I. Bilder machen Geschichte

Diese Aussage meint das Schicksal, den Lebensweg eines Bildes und zwar nicht nur im Sinne der Provenienz sondern (und das vor allem) sein Vorkommen in der Literatur bzw. seine argumentative Verwendung in kulturellen Äußerungen aller Art.

Natürlich ist die Geschichte von Bildern ganz unterschiedlich. Manche Bilder sind im Magazin verstaubt, wurden erst später entdeckt, z.T. regelrecht rehabilitiert (wie z.B. viele Genrebilder aus dem 19.Jahrhundert). Andere standen im Mittelpunkt des Interesses und wanderten von Ausstellung zu Ausstellung - was heutigen Restauratoren ein Graus ist. Auch die Erwähnung bzw. Verwendung in der Literatur ist ein Teil der Geschichte eines Bildes. Da aus naheliegenden Gründen darüber keine vollständige Übersicht zu verschaffen sein dürfte, ist gerade dieser Teil lückenhaft, und die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind zufällig.
Allerdings bin ich bei zunehmendem Recherche-Fortschritt auf z.T. unglaubliche Unzulänglichkeiten, Fehler, ja sogar Mißbräuche gestoßen, so daß ich es fast schon als geboten ansehe, schriftlichen Äußerungen über Bilder (von wem auch immer sie sein mögen) zunächst einmal zu mißtrauen.

Einige Beispiele:

"Küche eines Bauernhauses, von A.van Ostade, 1697" betiteln Jacubeit (Sigrid und Wolfgang Jacubeit: Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes. Köln, 2.Aufl.1988, Bd.1, S.231) einen Kupferstich von Ostade, der allerdings 1685 bereits verstorben ist. Das richtige Datum kann man auf dem Stich sogar entziffern: 1647!

Ein Gemälde von Ostade (Der Schulmeister, 1662 - es hängt im Louvre) wird von Robert Alt (Bilderatlas zur Schul- und Erziehungsgeschichte. Bd.1, Berlin 1960, S.435) seiner oberen Hälfte beraubt und dann mit Hinweis auf eine andere Quelle (G.Duveau: Les Instituteurs. Paris 1957, S.8) als "Französische Dorfschule, Ende des 18.Jahrhunderts" dokumentiert.
Ostade hat in Haarlem gewohnt, dieses selten verlassen (so Thieme/Becker) und "Er ist durch und durch Holländer und sucht seine Stoffe lediglich in seiner unmittelbaren Umgebung" (A.v.Wurzbach: Niederländisches Künstlerlexikon, Amsterdam 1968, Bd.2, S.274) - außerdem hat er im 17.Jahrhundert gelebt (1610-1684)!

Lassen sich solche Fälle noch relativ schnell, da im Widerspruch zu biografischen Daten stehend, überprüfen bzw. richtig stellen, ist bei Interpretationen schon ein größerer Aufwand nötig, um Verzerrungen und Fälschungen feststellen zu können.

Weber-Kellermann (in: Die Kindheit, Ffm.1979, S.146) halbiert zunächst Renoirs "Der Nachmittag der Kinder in Vargemont", um dann das Bild mit "Mutter, was nähst Du da?" zu untertiteln und ihm im Text einen direkten Bezug zu einer nähenden Mutter zu geben. Das Bild zeigt (als Ganzes) jedoch die drei Töchter Marthe, Marguerite und Lucie des mit Renoir befreundeten Ehepaars Bérard aus Vargemont.

Einem anderen Bild von Renoir, nämlich dem "Knaben mit kleiner Peitsche" (es zeigt Etienne Goujon) geht es auch nicht viel besser, wenn bei Grape-Albers im Ausstellungskatalog "Felix strickt und Katrin kickt" (Köln/Bonn 1979, S.33) daraus ein "Mädchen mit Peitsche" wird. Im Kommentar erfährt man, daß mit diesem Bild ein selbstbewußtes Mädchen vorgestellt werden soll, das in der rechten Hand eine Peitsche hält, "die normalerweise nur kleinen Knaben als Attribut beigegeben wird. ... Man hat den Eindruck, daß hier eine zwar noch kleine, aber sehr selbstbewußte Person im Bild festgehalten wurde." Dies hätte man allerdings mit dem Gegenstück "Mädchen mit Reifen" auch zeigen können.

Bei der "Okkupation" von Gemälden durch Sozialwissenschaftler (wie Jacubeit, Alt, Weber-Kellermann, Grape-Albers u.a.) ist die Tendenz zu beobachten, sie der Generalaussage der jeweiligen Publikation bzw. Ausstellung zu unterwerfen. Nun sind aber solche "Verfälschungen" keineswegs das Privileg neuerer Verwendungsformen, auch die Kunstgeschichte ist mit dem Gegenstand ihres Interesses nicht immer sachangemessen umgegangen.

Ein Gemälde Ter Borchs (1617-1681) "wurde früher 'die väterliche Ermahnung' genannt, bis man entdeckte, daß der junge Offizier seine Rechte nicht zur Ermahnung erhebt, sondern um der jungen Dame eine glänzende Münze zu zeigen" (Die Kunstschätze im Rijksmuseum. Amsterdam 1992, S.63). Der Text zur etwas später entstandenen zweiten Fassung dieses Bildes (hängt in Berlin) ist noch etwas deutlicher: "Offensichtlich in Mißachtung der Goldmünze, die der junge Kavalier in der erhobenen Rechten hält, ist die Darstellung schon im 18.Jahrhundert nicht mehr verstanden worden" (Meisterwerke aus der Gemäldegalerie Berlin. Stuttgart/Zürich 1980, S.106). So wurde aus dem Freier der Vater, der Kupplerin die Mutter, der Hure die Jungfrau, aus einer Bordellszene eine solche im gutbürgerlichen Hause. Inzwischen hat man die Goldmünze wieder "entdeckt" und aus der 'Väterlichen Ermahnung' wurde eine 'Galante Unterhaltung'. Doch damit nicht genug: Bei Peter C.Sutton, dem wohl intimsten Kenner der holländischen Genremalerei des 16. und 17.Jahrhunderts, finde ich folgende Passage:
"Kürzlich wurde die Theorie aufgestellt, daß das Gemälde auch einen Heiratsantrag darstellen könnte; gestützt wird diese Theorie unter anderem durch die gleiche Gebärde des Mannes in Netschers Gemälde Das Medallion. Möglicherweise wird uns die genaue Bedeutung von ter Borchs Gemälde immer unbekannt bleiben, was nur in seinem Sinne sein dürfte." Den (verblüffenden) letzten Halbsatz erklärt Sutton einige Sätze später: "Ter Borch (nutzte) in seinem verfeinerten Naturalismus die Tatsache, daß die Ereignisse der Wirklichkeit nur solange von Interesse sind, wie sie nicht völlig zutage liegen; mit der Enthüllung ihrer vollen Bedeutung verlieren sie an Interesse." (Beide Zitate aus: Peter C.Sutton; Von Frans Hals bis Vermeer, Berlin 1984, S.40) Auf den letzten Gedanken komme ich später noch einmal zurück. Jetzt erst noch ein anderes Beispiel, das ein weiteres Problem zu zeigen geeignet ist:

Bei Rave (in: Die Malerei des 19.Jahrhunderts, Berlin 1949) lese ich über das im 2.Weltkrieg verloren gegangene Bild "Kinderfest" von Knaus (das zu den Beständen der Berliner Nationalgalerie gehörte):
"Der Maler gab den dargestellten Personen die Kostüme etwa zur Zeit des jungen Goethe und tat sein übriges an neckischer Erfindung. Aber so glatt und geleckt, so süßlich und adrett mag man sich auch zu jener Zeit wirklich Menschen nicht recht vorzustellen."

Zurückhaltend fomuliert, aber gekonnt verrissen... und das 1945. Wirkt da noch etwas nach von Blut und Boden? Wer also ist Paul Ortwin Rave, der 1945 (noch oder schon) ein veritables Buch mit vielen schwarz-weiß Fotos herausgibt? Er bleibt 1937 als einziger vom alten Stamm der National-Galerie als stellvertretender Direktor über - alle anderen wurden von den Nazis geschaßt. Ach so! Nein, nein, es ist ganz anders: Er wurde gar nicht fest angestellt, weil er zu enge Beziehungen zu den "Entarteten" hatte. 1945 wird er dann zum Direktor der National-Galerie ernannt. Er hat übrigens 1949 die Broschüre "Kunstdiktatur im Dritten Reich" veröffentlicht. Man wird also (in diesem Fall) annehmen dürfen, daß sich hier ein Fachmann zu seiner Zeit mit begründetem Urteil geäußert hat. In anderen Fällen wird es sehr wohl eine Rolle spielen, aus welcher Position, welcher politischen Konstellation und zu welcher Zeit sich jemand zu Wort gemeldet hat (so war es z.B. um die Jahrhundertwende gar nicht einfach in der National-Galerie Impressionisten zu sammeln; Tschudi gab 1909 auf, der Kaiser hatte die Genehmigung aller Käufe verordnet, und er wollte nun mal "keine violetten Schweine" - daß Justi, der Nachfolger, dann doch Franz Marcs "Turm der blauen Pferde" gekauft hat, zeigt nur, wie zeitgebunden solche Einschätzungen sind).

FAZIT:
  1. Schriftliche Äußerungen über Kunstwerke unterliegen sehr oft und nur schwer nachprüfbaren, gesellschaftlichen und individuellen Verwendungsinteressen.
  2. Die Geschichte von Bildern ist zwar ein Stoff, aus dem Ausstellungen amüsantester Art zu gestalten sein dürften, sie liefert aber keine Kategorien, die es gestatten, Motive einer Sammlung KINDERWELTEN aufzubereiten.

II. Bilder haben eine Geschichte

Schon bevor ein Bild materiell existiert (und Geschichte machen kann), dürfte es (von einigen speziellen Kunstrichtungen neuerer Art einmal abgesehen) in der Vorstellung des Malers verschiedene Entwicklungsstufen durchmachen. Wenn also im Teil I vom Leben des Bildes die Rede war, dann ist jetzt (um im Bild zu bleiben) die Phase der Schwangerschaft gemeint, die Ideengeschichte, der Prozeß der Bildwerdung.
Um darüber etwas zu erfahren, sind wir auf Selbstzeugnisse der Künstler angewiesen - und diese scheinen zum einen unsicher und zum anderen zufällig zu sein. So sind von Spitzweg erst in den letzten Jahren "93 unbekannte Gemälde, mehrere hundert Zeichnungen und ca. 800 Briefe und Tagebucheintragungen aufgefunden worden." Die bisherige und noch keinesfalls vollständige Auswertung "brachte eine Umwälzung und eine völlig veränderte Beurteilung des bekannten deutschen Malers", "einen bisher weitgehend unbekannten Spitzweg" mit sich. "Daraufhin erwies sich eine Legende nach der anderen als haltlos, so daß der Maler jetzt als ein Zeitgenosse des 19.Jahrhunderts verstanden werden kann, der an allen Prozessen in kulturellen und politischen, auch internationalen Bereichen teilnehmen konnte." (alle Zitate aus: Siegfried Wichmann: Carl Spitzweg. Ffm./Berlin 1991, S.7). Auch wenn hier ein Kunstwissenschaftler möglicherweise pro domo spricht, sind seine Forschungsergebnisse (und die anderer an der Spitzweg-Forschung Beteiligter) doch so 'hart', daß Spitzweg-Publikationen vor 1985 nunmehr mit Vorsicht zu lesen sind. (Ähnliches geschieht gerade mit Franz Marc, dem durch die Aufarbeitung seines relativ unbekannten Spätwerkes das Klischee des Tiermalers genommen werden soll.)

Solche 'Umwertungen' gibt es auch bei einzelnen Bildern. So erfährt man im Katalog der Eremitage (Westeuropäische Kunst. Leningrad 1984, S.264) über ein Bild, das eine Familie aus der van Dyck nahestehenden bürgerlichen Intelligenz Antwerpens zeigen soll: "Früher galt dieses Gemälde als das Bildnis der Familie des Malers Frans Snyders, später des Malers Jan Wildens. Beide Annahmen stellten sich als unrichtig heraus. Darum bezeichnet man das Gemälde heute einfach als Familienbildnis."

Ebenso unsicher ist die Zuschreibung vieler Bilder zu ihren Urhebern. Ein schönes Beispiel dafür sind die "Spielenden Kinder", auch als "Der kleine Gernegroß" bezeichnet, datiert auf "um 1840" und damit vor Hasenclevers "Pfarrerskinder" (1847) gemalt (womit sich ganz nebenbei noch die Frage ergibt, inwieweit Hasenclever mit seinem ebenfalls die Erwachsenen parodierenden Rollenspiel nur ein vorhandenes Motiv variiert hat). Im Ausstellungskatalog "Wiener Biedermeier" (hg. von Frodl und Schröder, München 1993) findet sich der wahrscheinlich neueste Stand der Zuschreibungsgeschichte:

"Peter Fendi scharte bekanntlich in den späten dreißiger und vierziger Jahren einen Kreis von sechs jungen Malern um sich, darunter Albert und Carl Schindler sowie Friedrich Treml. Der enge Kontakt zwischen den Schülern und ihrem Meister führte nicht nur zu einer gegenseitigen Befruchtung - ... -, sie dürften auch einige Arbeiten gemeinsam gemacht haben, erstaunlicherweise auch in der spontanen Technik des Aquarells. So findet sich auf manchen von Fendi signierten und datierten Aquarellen die Handschrift von Friedrich Treml. Unsignierte Blätter, wie das vorliegende, verursachen daher naturgemäß Zuschreibungsschwierigkeiten. Das Aquarell wurde zuletzt, nach einer zwischenzeitlichen Attribution an Fendi, wieder Albert Schindler zugewiesen. Die lockere Pinselführung spricht jedoch für die Autorenschaft des Lehrers. Am Zylinder, den sich das kleine Mädchen übergestülpt hat, nutzt Fendi das Weiß des Blattgrundes zur Suggestion von aufgesetzten Glanzlichtern: ein Kunstgriff, dessen Albert Schindler sich in seinen gesichert eigenhändigen Werken niemals so virtuos bediente. Die gemessen am früheren Werk Fendis schwereren Farben gehen auf den erwähnten Einfluß Carl Schindlers zurück. Das Unbekümmerte und Spielerische der Kinderszene ist die eigentliche Erfindung Fendis."

Alles Fendi, oder was?

Die unterschiedliche Bewertung des "Goldenen Zeitalters" der flämischen und holländischen Malerei (Sutton verweist in seinem Aufsatz "Meister holländischer Genremalerei", dem auch die beiden weiter oben angeführten Zitate entnommen waren, auf die gegensätzlichen Positionen "allegorische oder sinnbildliche Deutungen" vs. "deskriptische oder malerische Wiedergabe holländischen Lebens"), sowie die Wiederentdeckung/Neubewertung (wenn nicht gar erstmalige Akzeptanz) des Genrebildes des 19.Jahrhunderts sind zwei weitere, äußerst umfangreiche Gebiete, in denen Kunstgeschichte offensichtlich wenn nicht neu geschrieben, so doch überdacht werden muß. Das führt natürlich zu der Nachfrage, inwieweit die Einbindung des Künstlers in das damalige kulturelle und politische Geschehen und die sich daraus (möglicherweise) ergebenden Einflüsse auf die Entstehungsgeschichte eines Bildes nachgewiesen sind - bzw. sich nachweisen lassen. Wieder ein Beispiel:

Thomas Gainsborough (1727-1788) galt als Landschafter sowie als Genremaler in Darstellungen bäuerlichen Lebens, gleichwohl war er bevorzugter Bildnismaler des englischen Königs und verkehrte als der bedeutendste Porträtist seiner Zeit in gehobener Gesellschaft. Hat er sich (etwa nach 1770) in seinen Darstellungen bäuerlichen Lebens auf Rousseaus "Zurück zur Natur" und mit den in dieser Natur spielenden Kindern auf den "Emile" bezogen?
Im Thieme/Becker lese ich dazu: "G. hat England nie verlassen und es mangelte ihm im Gegensatz zu seinem Rivalen Reynolds der umfassenden Kenntis der klassischen Kunst, war überhaupt jeder theoretischen und historischen Bildung abgeneigt" (Thieme/ Becker, Bd.XIII, S.79). Es steht aber doch zu vermuten, daß in den Kreisen, in denen er sich bewegte, die Ideen von Rousseau diskutiert wurden, zumal dieser sich von 1767-1770 in England aufhielt. Gainsborough hat sie also möglicherweise (trotz Abneigung) gekannt, vielleicht findet sich sogar irgendwann einmal ein Brief, in dem ein Earl berichtet, daß Gainsborough einem Gespräch über Rousseaus Gedanken mit Interesse gefolgt sei.
Kann bzw. muß sein Gemälde "The Cottage Door with Children Playing" (wahrscheinlich 1778 zum ersten Mal ausgestellt) auf diesem zeitgenössischen Hintergrund bewertet werden oder nicht?

Ich schließe eine für mich prinzipielle Frage an: Können wir überhaupt davon ausgehen, daß die jeweiligen Zeitgenossen die zu ihrer Zeit stattgefundene aktuelle Diskussion so bewertet haben, wie wir das heute in Kenntnis des Gangs der Geschichte tun? - und meine, sie mit 'nein' beantworten zu müssen (ganz unabhängig davon, daß wir gar nicht immer wissen, wie umfangreich und zu welchem Zeitpunkt solche Diskussionen zur Kenntnis genommen worden sind - von Fehlinterpretationen, die uns heute nicht mehr zugänglich sind, ebenfalls einmal abgesehen).

Gleichwohl sind solche 'Geschichten' von Interesse und jeder Ausstellungsmacher wird sich mit ihnen befassen müssen. Sie werden aber bei allem Einfluß, den sie auf die Ausstellung möglicherweise (etwa in der Auswahl der Bilder) haben werden, nicht in der Ausstellung selbst präsentiert werden können. Das verbietet zum einen die Fülle der Materialien, zum anderen wird die notwendigerweise dialektische Form der Auseinandersetzung mit verschiedenen z.T. kontroversen Auffassungen nicht im Stehen zu rezipieren sein. Wenn denn diese Form von 'Geschichten' als wichtig erachtet wird, gehört sie in den Katalog, dort kann der argumentative Gedankengang auch in der für das Lesen erforderlichen Umgebung und Konzentration nachvollzogen werden. Der genannte Aufsatz von Sutton im Ausstellungskatalog "Von Frans Hals bis Vermeer" hat z.B. einen Umfang von 48 Seiten mit 112 kleinen s-w Abbildungen - und damit wird auch deutlich, daß er gar nicht zum Verständnis (bzw. Genuß) der ausgestellten Bilder erforderlich ist.

FAZIT:
  1. Kenntnisse der beschriebenen Art sind hochgradig abhängig vom Stand der Forschung - ältere Literatur muß in nahezu allen Fällen durch neuere Veröffentlichungen überprüft werden.
  2. Solche Kenntnisse sind für den Ausstellungsmacher nützlich bis notwendig (um Fehler wie unter I. beschrieben zu vermeiden), aber für den Ausstellungsbesucher im Moment der Bildbetrachtung nicht erforderlich - sie stehen seinem persönlichen Bilderlebnis möglicherweise sogar entgegen.
  3. Wiederum gilt: Diese 'Geschichten' liefern aber keine Kategorien, die es gestatten, Motive einer Sammlung KINDERWELTEN aufzubereiten.

III. Bilder erzählen eine Geschichte

Mit Geschichte ist diesmal die Aussage gemeint, die ein Bild machen will, bzw. macht, daher unterscheide ich zwei Arten von Bild-Geschichten:
  • Die Geschichte, die der Maler erzählt
  • Die Geschichte, die das Bild dem Betrachter erzählt
1.Die Geschichte, die der Maler erzählt
Alles unter II. Gesagte gilt natürlich hier (in abgewandelter Weise) auch: Wir sind auf die höchst unzulänglichen Zeugnisse über den Schaffensprozeß eines Künstlers angewiesen, kennen nur in den seltensten Fällen seine Absichten, und in der Literatur finden sich viele Meinungen, die z.T. durchaus als Fehlinterpretationen bzw. Falschmeldungen bezeichnet werden können - daß manche Publikation zum Bestseller gemanaget wurde, sagt weder etwas über deren tatsächliche Relevanz noch über deren Wahrheitsgehalt aus. (Nur in Klammern: Es mehren sich die Stimmen, die der Ariés'schen Auffassung, die mittelalterliche Gesellschaft habe kein Verhältnis zur Kindheit gehabt, ganz entschieden widersprechen. U.a. führt Ariés als Beleg für seine These an, daß es in der bildenden Kunst keine Darstellung lebender Kinder gegeben habe. "Ist dies ein stichhaltiger Beweis für die These, daß die Erwachsenen die Kinder nicht als solche wahrnahmen? Oder liegt der Grund dafür, daß die Kinder nicht kindgerecht dargestellt wurden, eher in der zeitbedingten ikonographischen Tradition? In der karolingischen, ottonischen und romanischen Kunst sind Kinder porträtiert, und die Darstellung zeugt durchaus davon, daß die Kindheit als besondere Entwicklungsphase bekannt war." So S.Shahar in ihrem Buch 'Kindheit im Mittelalter', München/Zürich 1991, S.112, mit einer Fußnote, die gleich ein ganzes Dutzend Belegstellen für diese Behauptung angibt.)
Nun hat es in der mittelalterlichen Malerei (und noch etwas darüber hinaus ) zweifelsohne eine allgemein verbreitete Farben- und Formensprache gegeben, an der die Absichten eines Künstlers festzumachen sind. Aber mit der allmählichen Loslösung der Kunst aus dem Bereich kirchlicher Auftraggeber haben sich (beginnend etwa mit dem 17.Jahrhundert) neue Motive und Aussagen entwickelt, die nicht mehr so eindeutig zu 'entschlüsseln' sind. Um dies zu verdeutlichen, zitiere ich einige Passagen aus dem Einführungstext des Kataloges zur Ter Borch Ausstellung, Münster 1974, dort wird zum Stichwort 'Emblematik' u.a folgendes angemerkt:

"Die allgemeine Bildsprache des 17.Jahrhunderts, also des Barock, war die Allegorie. Sie stand vornehmlich im Dienste kirchlicher und höfischer Aufträge. Ein System verabredeter Bildzeichen war über ganz Europa verbreitet, weiten Kreisen geläufig und wurde nicht nur in Gemälden angewandt, sondern war auch in Kompendien wie Ikonologien, Mythologien, Hieroglyphenkunden, Emblembüchern usw. für Künstler und Publikum verfügbar."
"So gehörte die Kenntnis der Emblematik nicht allein bei Künstlern und Literaten, sondern auch beim gebildeten Publikum zum Allgemeingut. Erst im 18. bzw. 19.Jahrhundert schwand dieser Wissensbestand. ... In seinen Sinne-en minnebeelden (1618) hatte Cats z.B. für jedes Emblem eine amouröse, eine sittliche und eine religiöse Erklärung. Vieldeutigkeit wurde damals wohl als besonderer Reiz empfunden. So weckt auch manches Genrebild des 17.Jahrhunderts mehrere, selbst einander gegensätzliche Bedeutungen, und das in weit größerem Umfang, als heutige Betrachter vermuten mögen. ... Die im Katalog vorgeführten Entschlüsselungsversuche müssen nach all dem unter dem Vorbehalt verstanden werden, daß sich die Kunst Ter Borchs einer Festlegung auf eindeutige Interpretationen entzieht. Weder die Interpreten, die allein vom 'wörtlichen' Bildsinn ausgehen und in vielen Werken Ter Borchs nichts als 'reine Genrebilder' sehen, noch die jenigen, die die gleichen Darstellungen nur als ikonographische Puzzle behandeln, können Alleingültigkeit ihrer Interpretationen beanspruchen. ...
Welche Deutung letzlich den Intentionen Ter Borchs entspricht, bleibt offen, das Verhältnis des Meisters zur Emblematik nicht exakt definierbar. Wir können weder beweisen, daß er dieses oder jenes Emblembuch benutzt hat, noch eindeutig feststellen, welchen Stellenwert er selbst der Emblematik beigemessen hat." (Alle Zitate aus: Landesmuseum Münster; Gerard Ter Borch. Münster 1974, S.39ff. )

Diese Einsichten zusammen mit dem oben zitierten Satz Suttons, "daß (für Ter Borch) die Ereignisse der Wirklichkeit nur solange von Interesse sind, wie sie nicht völlig zutage liegen; mit der Enthüllung ihrer vollen Bedeutung verlieren sie an Interesse", lassen es meines Erachtens (generell) geboten erscheinen, von 'umfassenden Ausdeutungen' abzusehen. Die Vorstellung, man könne die Aussage eines Bild nur verstehen, wenn man dieses und jenes weiß, impliziert, daß derjenige, der solches behauptet, diese Aussage kenne, und daß auch nur diese eine Aussage als gültig anzunehmen sei - was angesichts der folgenden Tatsache allerdings schwer zu belegen sein dürfte:
"Im 16. und 17.Jahrhundert waren solche Emblembücher in ganz Europa außerordentlich beliebt. Man schätzt, daß in diesem Zeitraum sechshundert Autoren an die zweitausend Titel herausgaben, in denen wiederum Zehntausende von Sinnsprüchen zusammengefaßt waren" (zitiert nach Sutton, a.a.O., S.18), davon hat das Emblematum Libellus einhundertsiebzig Auflagen erlebt.
Da halte ich den Terminus "Entschlüsselungsversuche", zumal sie noch unter "Vorbehalt verstanden werden" sollen, für sehr viel angemessener - und ich denke, daß dieses nicht nur auf Ter Borchs Werk sondern auch auf die Bilder anderer Maler zutrifft. Im übrigen würde ich mir als Ausstellungsbesucher ungern sagen lassen wollen, was ich doch für ein Dummerchen bin, wenn ich dieses oder jenes Bild ohne das von einem' Fachmann'/einer 'Fachfrau' zuvor festgelegte Hintergrundwissen betrachte - und damit komme ich zur zweiten Form der Bild-Geschichte:

2.Die Geschichte, die das Bild dem Betrachter erzählt
Es leuchtet unmittelbar ein, daß es "die" Geschichte nicht gibt, sondern daß zu einem Bild viele Geschichten existieren. So erzählt das Bild 'Die Familie des Malers' (von Otto Dix) einem kleinen Mädchen eine andere Geschichte als einem kleinen Jungen, einer Studentin eine andere als einem Studenten, einer Mutter mit kleiner Tochter eine andere als einer alleinstehenden Frau usw. ja es wird sogar so sein, daß die Geschichten bei einem Betrachter variieren werden, nämlich in Abhängigkeit z.B. von dessen momentaner Verfassung, seiner Begleitung, dem Familienstand, der Jahreszeit usw. Ein weiterer (aber nicht der erste, wichtigste und ausschlaggebende) Bereich, der diese Geschichten bedingt, ist das kulturhistorische und allgemeine Wissen des Betrachters. Wenn er sich der Madonnenbilder erinnert oder den Typus der 'Heiligen Familie' kennt, erschließt sich ihm eine tiefere Schicht dieses Bildes. Wenn er weiß, daß sich Dix intensiv mit Bosch und Brueghel befaßt hat und nun seinerseits wieder etwas über diese beiden weiß - also fast schon Kunstgeschichte studiert hat - stellt er fest, daß Dix wie sie auf Holz malt, sich also auch an deren Maltechnik orientiert. Er kennt vielleicht sogar ein Bild aus dem Mittelalter (Kölnischer Meister "Die heilige Familie"), das Dix als Vorlage für den physiognomischen Gegensatz zwischen der schönen Mutter und dem als alten Mann charakterisierten Vater gedient haben mag.
Ausstellungsdidaktisch könnte man dem Betrachter sehr viel schneller als durch einen klugen Text zu solchen Geschichten verhelfen, wenn man ihm entsprechende Bilder (also weitere Familienbilder als Variationen und Kontraste) zur Verfügung stellen würde - im vorliegenden Falle ist dies in der Ausstellung "Kinder und Erwachsene im Bildnis" (Frankfurt/M. - Städel - 1978) auch so gewesen: Dem 'Dix' war der 'Kölnische Meister' gegenübergestellt. Der dazugehörige Katalogtext hat sich auf eine halbe DIN A4-Seite beschränkt.

Da Kunstwissenschaftler und Kunsthistoriker von diesem Fakt (der unterschiedlichen Geschichten-Bildung) nicht ausgenommen sind, ist dies auch eine Erklärung für deren unterschiedliche Geschichten, sie versuchen nur (allzu oft, aber wie mir scheint mit abnehmender Häufigkeit) ihrer Geschichte eine allgemeine Gültigkeit zuzuschreiben, anstatt sie als Interpretationsangebot ("Entschlüsselungsversuch") mitzuteilen.

Diese Überlegungen führen letztendlich zu der These, daß die Geschichte(n), die ein Bild (wem auch immer) zu erzählen vermag, von Rahmenbedingungen gesellschaftlicher, sozialer und individueller Art abhängig ist (sind), in denen der jeweilige Rezipient steht - daher sind die Geschichten auch so vielfältig.
In den Nachbarkünsten (ich nenne nur einmal Theater und Musik) wird solches für die Interpretation und von den Interpreten als selbstverständlich in Anspruch genommen - und die Besucher dürfen anschließend darüber streiten, ob ihnen diese oder jene Interpretation mehr gefallen hat.

FAZIT:
  1. Die Geschichte, die der Maler erzählen wollte, teilt sich uns in vielen Fällen gar nicht mehr mit.
  2. Die Geschichten, die die Bilder ihren Betrachtern erzählen, sind vielfältig und voneinander verschieden.
  3. Wenn Bilder so viele Geschichten erzählen können, kann man sie befragen - ausstellungsdidaktisch würde dies bedeuten: Eine Fragestellung muß her, zu der Bilder zu suchen sind, deren Geschichten Antworten geben können.

IV. Bilder hängen in Ausstellungen

An dieser Stelle wird es erforderlich, über die verschiedenen Ausstellungstypen nachzudenken, die einem Museumsbesucher begegnen - natürlich stehen hier im Vordergrund des Interesses Bilderausstellungen.
  • Werkbezogene Ausstellungen
     
    1. Werke eines Malers/seiner wichtigen Epochen/seiner Themen - z.B.:
      • Der Künstlerfürst Franz von Stuck - zum 130.Geburtstag (eine umfassende Retrospektive)
        Museum Villa Stuck, München 1993/94
      • Picassos letzte Bilder (Das Spätwerk)
        Kunsthalle, Bielefeld 1993
      • Ernst Ludwig Kirchners Straßenszenen (1913-1915)
        Brücke-Museum, Berlin 1994
         
    2. Werke von Malergruppen/aus Museen/aus Sammlungen etc. - z.B.:
      • Die Brücke-Maler
        Brücke- Museum, Berlin (ständige Ausstellung)
      • Von Cranach bis Monet - Meisterwerke aus dem Nationalen Kunstmuseum Bukarest
        Von der Heydt-Museum, Wuppertal 1994
      • Morosow und Schtschukin - Die russischen Sammler: Monet bis Picasso
        Museum Folkwang, Essen 1993
         
    3. Werke aus Stilrichtungen/Epochen - z.B.:
      • Impressionism 1874-1886
        National Gallery of Art, Washington, 1986
      • Viktorianische Malerei
        Neue Pinakothek, München 1993
         
  • Thematische Ausstellungen
     
    1. Ausstellungen, die nur gerahmte Objekte (Gemälde, Grafiken u.ä.) zeigen. Das bekannteste Beispiel aus der letzten Zeit dürfte die Ausstellung "Leselust" (Schirn Kunsthalle, Frankfurt 1993/94) sein, die zu diesem Thema 87 Gemälde niederländischer Maler präsentiert hatte.
    2. Ausstellungen, bei denen neben Gemälden, Grafiken u.ä. weitere Objekte (Möbel, Gebrauchsgegenstände aus Porzellan, Steingut, Kupfer, Zink, u.a., Fliesen, Kleidung etc.) und Dokumente (Fotos, Zeitungen, Bücher, Plakate, Programme, Handzettel etc.) im Original oder als Kopie gezeigt werden. Das Verhältnis dieser verschiedenartigen Ausstellungsgegenstände zueinander variiert, wie auch der erklärende Text, ohne den thematische Ausstellungen (vor allem solche der zweiten Art) nicht auskommen, von ganz unterschiedlichem Umfang ist. - Als Beispiel nenne ich: "Kein Kinderspiel - Das erste Lebensjahr". Eine Wanderausstellung des Westfälischen Museumsamtes. Münster 1994/95
       
    Ein Beispiel für beide Arten der thematischen Ausstellung war die Braunschweiger Doppelausstellung über "das Alter in der Kunst":
    Der eine Teil (im Herzog Anton Ulrich-Museum) zeigte "Bilder vom alten Menschen in der niederländischen und deutschen Kunst 1550-1750". In zehn (?) Gruppen wurden nach einem kurzen Einführungstext die Bilder ohne weitere Erläuterung gezeigt (etwa zum Thema 'Alter und Jugend', 'Alter und Krankheit' usw.)
    Der andere Teil (im Braunschweigischen Landesmuseum) gab unter Einbeziehung vielfältiger Objekte einen Überblick über die "Geschichte des Alters in ihren Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart". Die bildende Kunst trat hier zurück. Objekte, Dokumente, Quellentexte, Fotos und längere Erläuterungen nahmen etwa die Hälfte der Ausstellung ein.
    Die beiden, mit einer Fülle zusätzlichen Materials aufwartenden Kataloge dürfte allerdings (schon wegen ihres Gewichtes) kaum ein Besucher durch die Ausstellungen getragen haben.
Die folgenden Beispiele sollen daraufhin untersucht werden, wie die didaktisch- methodische Aufgabe der Vermittlung von (Zusatz-)Informationen gelöst wird.

Bestandsausstellungen und -kataloge bieten über biographische Daten hinaus nur wenig Information (allerdings ist eine Zunahme von Miszellen bzw. Informationsblättern zu einzelnen Bildern, sowie Führern durch ganze Bestände festzustellen, z.B. Kunstmuseum Düsseldorf: Führer durch die Sammlungen. Bd.1; Alte Kunst/19.Jahrhundert. Düsseldorf 1992, 238S.)
Demgegenüber überbieten sich Sonderausstellungen geradezu gegenseitig, wenn es um deren museumspädagogische Vermittlungsstrategien geht, so z.B. zur Zeit zu beobachten bei "Franz Marc - Kräfte der Natur" in Münster. Bei diesen Ausstellungen ist ein sehr starker (und von einem Teil des Publikum begrüßter) Trend zu beobachten, schriftlich niedergelegte Information um audio-visuell Dargebotenes zu ergänzen - wenn nicht gar zu ersetzen: Die stündliche Führung, die Audio-Führung mittels Cassettenrecorder, die einführende Ton-Bild-Schau, der ergänzende (Video-)Film, die MultiVision. Gerade die zuletzt genannten Verfahren können eine so starke emotionale Aussage vermitteln, daß sie zum eigentlichen Erlebnis werden und nicht die 'Begegnung mit der Kunst'. Die durch das Medium erzeugte Aura wird stärker als die des Originals - ob das die Ausstellungsmacher immer bedacht haben bzw. begrüßen?
Weniger aufwendige Ausstellungen (und die sind immer noch in der Mehrzahl) setzen allerdings nach wie vor auf 'Gedrucktes', das in Form des Kataloges nur eine Minderheit der Besucher (meist nach dem Besuch der Ausstellung) mitnimmt. Für die schon erwähnte Ausstellung 'Leselust' hatten sich die Ausstellungsmacher eine sehr schöne Alternative bzw. Ergänzung zum 400-Seiten-Katalog einfallen lassen: Jeder Besucher erhielt als Eintrittskarte ein kleines Heftchen im Postkartenformat, in dem jedes Bild auf einer halbe Seite (also im DIN A7 Hochformat) vorgestellt wurde. Die hervorragend formulierten kurzen Texte ordneten das Bild kunsthistorisch ein, gaben Interpretationshilfen, zogen Vergleiche zu anderen Bildern. Selten habe ich in einer Ausstellung so viele Menschen lesen gesehen - 'Leselust' ganz praktisch. Die Ausstellung verzichtete auf jegliche weitere Information.

Noch fünf Kataloge zu Ausstellungen, deren Themen im Bereich 'Kinderwelten' angesiedelt sind:
  • Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Kinder in der bildenden Kunst. Berlin 1979, 400S.
     
    Der Katalog setzt eine Tradition fort, die wohl mit 'Puppe, Fibel, Schießgewehr' (der großen Ausstellung über die Kindheit im 19.Jahrhundert in der Akademie der Künste, Berlin 1976) begonnen hat, zumindest aber dort auch schon anzutreffen war: Ein kiloschwerer Katalog, der neben Hinweisen zu den ausgestellten Bildern und Objekten eine Fülle weiterer Informationen enthält, z.T. lange sozial- und kunstwissenschaftliche Abhandlungen, ergänzt um weitere Fotos, Bilder und Dokumente, die nicht in der Ausstellung zu sehen sind - der Bezug zur Ausstellung ist manchmal nur durch den Ausstellungstitel, nicht aber durch die ausgestellten Objekte herzustellen. Der Katalog entwickelt ein Eigenleben und wird auch ohne Kenntnis der Ausstellung lesenswert.
     
  • Vater - Mutter - Kind. Bilder und Zeugnisse aus zwei Jahrhunderten. München 1987, 440S.
     
    Hier wird das eben Gesagte noch weiter getrieben. Dieser 'Katalog' ist als Nachschlagewerk höchst empfehlenswert. Er stellt sich dar als ein Sammelband grundlegender Aufsätze zu (vielen) einzelnen Aspekten des Themas, die allemal umfangreicher, präziser und vor allem besser dokumentiert Auskunft erteilen als die 'Standard-Werke' über Familie und Kindheit von Weber-Kellermann. Dieses Buch hat die Ausstellung zum Anlaß genommen, aber nicht zum Gegenstand - die Bezeichnung 'Katalog' ist darum nicht ganz zutreffend.
     
  • Heide Grape-Albers: Felix strickt und Katrin kickt. Köln/Bonn 1979, 136S.
     
    Dieses Heft ist anläßlich der gleichnamigen Ausstellung in Karlsruhe und Bonn erschienen. Neben einigen grundlegenden Gedanken wird auf die ausgestellten Bilder eingegangen. Wenn in der Form auch so ähnlich wie im 'Eintrittskartenkatalog' der Leselust-Ausstellung, so ist vom Inhalt her eine z.T. äußerst einseitige (vor Verfälschungen nicht zurückschreckende) Inanspruchnahme der ausgestellten Bilder für frauenpolitische Zwecke festzustellen. (Dieser Begriff ist - ganz gegen meine sonstige Einstellung - in diesem Zusammenhang negativ gemeint und stellt natürlich den Sachverhalt völlig verkürzend dar; man/frau muß dieses Opus lesen, um mir in der Tendenz zustimmen zu können: So geht das nicht!)
     
  • Kinder und Erwachsene im Bildnis. Eine Ausstellung für Schüler und Lehrer. Frankfurt/M. 1978
     
    Zu dieser Ausstellung im Städel, die nur hauseigene Bilder umfaßt, hat Elke Spickernagel einen Katalog geschrieben, der sich wohltuend von dem vorhergenden unterscheidet. Für das 16. bis 19.Jahrhundert stellt sie in Anlehnung an die gängige Literatur kurz die jeweils vorherrschenden Vorstellungen von Kindheit, Familie, Erziehung vor. Anschließend werden jeweils etwa eine Seite umfassende Informationen zu Bildern aus der entsprechenden Zeit gegeben. Ausstellung und Katalog beziehen ihren Reiz aus der Gegenüberstellung von Werken verschiedener Maler aus verschiedenen Epochen. Ich habe das schon ausführlich an dem Bild 'Die Familie des Malers' (von Otto Dix) im Abschnitt III.2 (Die Geschichte, die das Bild dem Betrachter erzählt) erläutert.
     
  • Sprößlinge - Zöglinge. Das Berliner Bürgerkind zwischen Aufklärung und Kaiserzeit. Berlin 1994, 64S.
     
    Dies war eine sehenswerte Ausstellung, die Bestände des Berlin Museums, des Märkischen Museums und des Schulmuseums (sozusagen: wiedervereinigt) in einem sehr ansprechenden Ambiente (dem Ephraim-Palais im Nikolaiviertel) präsentierte. In bezug auf 'Kinderwelten' ist auf die dreifache Eingrenzung bzw. Beschränkung dieser Ausstellung hinzuweisen:
    regional:
    sozial:
    zeitlich:
    Berlin
    Bürgerkind
    zwischen Aufklärung und Kaiserzeit
    Eine weitere (aber nicht so entscheidende) Eingrenzung ergab sich durch die Themen, die sich die Ausstellung stellte:
    Zum einen Schule mit vielen Aspekten (Theoretische Konzepte, Realisierungen in Berlin, Hauslehrer, Gymnasium, Unterrichtsmaterialien, Schulmöbel etc.) und zum anderen Familie mit den Aspekten Kinderspiele, Jungenspielzeug/Mädchenspielzeug, Kinderliteratur, Kinderkleidung, Kinderzimmer, Kindermöbel, Weihnachten. Dies alles wurde mit vielen Dokumenten und Gegenständen vorgeführt. Die präzisen Informationen umfaßten in der Regel nicht mehr als eine DIN A5-Seite (Schrifthöhe: etwa 1cm) zu den genannten Aspekten. In den Vitrinen waren den Objekten manchmal noch kurze (ein oder zwei Sätze umfassende) Informationen beigegeben. Entsprechend den beteiligten Museen (und wohl auch der Absicht der Ausstellung) spielten Gemälde und Grafiken eine eher untergeordnete Rolle.
    Der kleine Katalog bietet nützliche Hintergrundinformationen zu den Bereichen Schule, Familie, Wohnen, Kleidung und Spielzeug jeweils mit direktem Bezug zu den Ausstellungsgegenständen. Bei den Abbildungen überwiegen (im Gegensatz zur Ausstellung) Gemälde und Grafiken. Am Beispiel "Mutter, Vater, Kind - im Bilde" werden einige dieser Bilder vergleichend interpretiert.
FAZIT:
  1. Ausstellungen (auch thematische) begnügen sich mit äußerst sparsamen schriftlichen Informationen neben den gehängten Objekten. Das Ausmaß zusätzlicher Information wird durch den Preis und durch das Gewicht der Kataloge bestimmt.
  2. Informationen zu den gehängten Objekten versuchen (in aller Regel), den Besucher nicht daran zu hindern, zunächst erst einmal die Geschichte zu entdecken, die das Bild ihm erzählt.
  3. Thematische Ausstellungen sind gar nicht so offen, wie das Thema auf den ersten Blick vermuten läßt. Beim zweiten Blick werden im Untertitel (zeitliche, räumliche, soziale u.a.) Eingrenzungen sichtbar.

V. Kindheit

Kindheit als eigener Lebensabschnitt scheint mir (inzwischen und nach längerer Überlegung) keine gesicherte Errungenschaft der Neuzeit zu sein.
Auf die Kritik an der Ariés'schen Auffassung, die mittelalterliche Gesellschaft habe kein Verhältnis zur Kindheit gehabt, bin ich unter bezug auf S.Shahar - es wären noch weitere zu nennen - bereits im Abschnitt III.1 kurz eingegangen.
Aussagen wie: "Seit ..jjjj.. kann man überhaupt erst von Kindheit im Sinne von .... reden", sehen m.E. (neben der Ausblendung regionaler und sozialschichtbezogener Abweichungen) davon ab, daß zumindest für die nach diesem Zeitpunkt folgenden Jahrzehnte/Jahrhunderte Kindheit und Kindsein eben gerade keine gleichbleibende Aufmerksamkeit bzw. Akzeptanz erfuhren (dies gerade scheint das Konstante zu sein!). Es ist darum auch keine Entwicklung zu "immer mehr" Kindheit (sowohl qualitativ als auch quantitativ gemeint) festzustellen, eher ein "mal mehr, mal weniger".

Dazu nur einige, wenige Belege:

  1. Während das bürgerliche Familienleitbild zu Anfang des 19.Jahrhunderts nicht nur zur Neuorganisation des privaten Raumes, sondern auch zu einer stärkeren Hinwendung zum Kind führt, verblaßt dieses Ideal (das sich in der wohl zahlenmäßig viel größeren Arbeiter- und Bauernschaft gar nicht erst entfalten konnte) in der 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts zunehmend. Nicht mehr das Kind steht im Mittelpunkt des elterlichen Interesses, sondern die Übernahme von Repräsentationspflichten. Damit legt die Ehefrau (in der bürgerlichen Familie) ihre Hausfrauen- und Mutterrolle weitgehend ab. Die Kinder werden der Obhut von Amme und Kinder-/Dienstmädchen überlassen.
     
  2. "Nur kurz ist die Phase der Anpassung der Kleidung an kindliche Bedürfnisse. Der Drang zur Machtrepräsentation setzt sich mit wachsender ökonomischer Stärke im Bürgertum durch und zeigt in der Mode entsprechende Konsequenzen. Zur Jahrhundertmitte (des 19.Jahrhunderts - P.K.) werden bereits wieder Tendenzen sichtbar, die Kinderkleidung stärker der Erwachsenenmode folgen zu lassen. Die Kleider der Mädchen unterscheiden sich im wesentlichen nur in der Länge von denen der Frauen. Krinoline und Schnürleib kehren zurück. Aus den Knaben werden wieder kleine Männer. Das Anliegen, die Kinder möglichst früh in die Gesellschaft zu integrieren, wird an der Kleidung deutlich." (Märkisches Museum Berlin(Hg.): Sprößlinge - Zöglinge. Berlin 1994, S.43)
     
  3. Auch das Jahrhundert des Kindes ändert da nicht viel. Die Tausend Jahre der Nationalsozialisten währten zwar nicht lange, aber wohl doch lange genug, daß man nicht vergessen sollte, wie Kinder zugunsten einer totalitären Doktrin um ihre Kindheit gebracht worden sind. Auch die Kinder- und Jugendorganisationen der DDR haben Kindheit nicht als unbeschwertes Kindsein-dürfen verstanden. Und wie steht es mit der Kinderarbeit in Lateinamerika und in... , in ..., in ... ? Auch in Sarajewo leben (leben: ?) Kinder, und in der Bundesrepublik findet gerade ein großer Prozeß betr. Kinderpornographie statt - wen interessiert's in einem Land, in dem der Tierschutz immer noch eine größere Lobby hat als der Kinderschutz, in dem Stellplätze für Autos seit Jahrzehnten zwingend vorgeschrieben sind, das für Ende dieses Jahrhunderts endlich angestrebte Recht auf einen Kindergartenplatz aber an leeren Kassen der Städte und Gemeinden zu scheitern droht.

Muß ich diesen Beispielen wirklich noch weitere folgen lassen, um klar zu machen, daß Kindheit sich zwar als Begriff durchgesetzt hat, die damit gemeinten Inhalte aber nicht Realität geworden sind?

Mir scheint, daß es sich bei der mit 'Kindheit' von vielen Autoren verbundenen Vorstellung um die (wie ich finde: unzulässige) Übernahme von bzw. nicht zutreffende Analogie zu solchen Phänomenen wie industrieller oder technischer Fortschritt (immer mehr, immer höher, immer weiter) handelt, die als unumkehrbar gedacht werden können und müssen. Kindheit ist heute nur das notdürftige Deckmäntelchen, hinter dem sich eine altersspezifische Konsumentengruppe verbirgt: Senioren, Autofahrer, alleinerziehende Frauen und eben auch: Kinder. Ich sehe jedenfalls im Werbefernsehen, in der Medienlandschaft, im Konsumdruck usw. keine Anhaltspunkte dafür, daß Kindheit ein vom Erwachsenendasein abgelöster, besonderer Schon- und Freiraum ist. Kinder werden - wie Erwachsene auch - zunehmend auf den Konsumenten und Medienbenutzer reduziert.

"Im Bereich der Wirtschaft - die in unseren Tagen den Sinn des Lebens verkörpert, denn Geist, Kultur, Kunst werden ja nicht für existentiell lebenswichtig gehalten - regiert allenthalben das Gesetz des Marktes." (Marion Gräfin Dönhoff, in: DIE ZEIT vom 1.4.1994, S.1) - und dieses Gesetz kennt keine Kindheit.

Das ist nicht neu. Neil Postman hat schon 1982 vom "Verschwinden der Kindheit" gesprochen und darauf hingewiesen, daß Kindheit eine "Erfindung" des Zivilisationsprozesses war, daß die elektronischen Medien die Trennung zwischen Erwachsenen- und Kindsein wieder rückgängig machen würden. Dazu nur ein Beleg:
Es ist eine seit Jahren zu beobachtende gesamtgesellschaftliche Tendenz (und nicht nur ein den Medien anzulastendes Vorgehen), daß Kinder existentiell mit den Problemen der Erwachsenen konfrontiert werden - bei gleichzeitiger Idealisierung ihrer (der Erwachsenen) Vergangenheit.
"Die Ursache dieser idealisierten Vergangenheit könnte sein, daß viele Erwachsene Angst vor der Zukunft haben und keine Möglichkeit sehen, die Entwicklung unserer Gesellschaft zu beeinflussen."(Ursula Nissen zitiert nach: erziehung & wissenschaft, 10/1993, S.12)

Daher wäre zu fragen, ob es vertretbar und glaubwürdig ist, vor den Kindern diese Ängste und Mängel auszubreiten und ihnen als heutige Last aufzubürden, anstatt alles daran zusetzen, ihnen ihre "Lebenslust" zu erhalten? Kinder und Jugendliche sind nämlich "psychisch auf die Perspektive einer sicheren, stabilen Umwelt angewiesen, auf die subjektive 'Unendlichkeit' ihrer Existenz, damit sich Lebensmut, Lebensentwürfe und eine optimistische, motivierende Sicht der Zukunft entwickeln können". (R.Dollase: Die Hoffnung nicht aufgeben. In: M. Schmitz-Peick (Hg.): Wenn der Welt die Luft ausgeht ... Düsseldorf 1992, S.115)
Lehrer und Lehrerinnen, die nach Tschernobyl entsprechende Unterrichtsprojekte durchgeführt haben, haben dieses nicht getan. Sie haben Kindern aufgebürdet, was sie selbst geängstigt hat und haben sich damit daran beteiligt, die Differenz zwischen Erwachsenen- und Kindersein (wieder) rückgängig zu machen.

FAZIT:
  1. KINDHEIT ist auch in der Form von KINDERWELTEN kein Ausstellungsthema. Beide Begriffe sind zu unscharf, um Inhalte zu strukturieren, es sei denn, man stellt im Titel Eingrenzungen her, die sich dann allerdings vorrangig auf die Bilder beziehen müßten:
    • Das Kinderbild von Meisterhand. Wandlungen eines Themas der bildenden Kunst von Lucas Cranach bis zur Gegenwart.
      (Ein schönes Thema. Die entsprechende Ausstellung fand 1972 in Weimar statt - es gibt sogar einen Ausstellungskatalog)
    Eingrenzungen thematischer Art würden die Erweiterung des Bildmaterials um weitere Objekte erfordern:
    • Kinderalltag in Stadt und Land 1800-1945.
      (So der Titel eines Buches von Christiane Cantauw-Groschek und Ulrich Tenschert. Rheda- Wiedenbrück 1992)
    • Spielzeug und Kinderleben in Frankfurt.
      (Eine Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt 1984)
  2. Die beiden unter 1. genannten Ausstellungstypen sind außerhalb bzw. ohne direkte Beteiligung entsprechender Institutionen nicht durchführbar (sofern ein Standard erreicht werden soll, der den ausgestellten Bildern und dem Thema halbwegs gerecht wird) - die Fülle der Ausstellungen, die ich in den vergangenen Monaten gesehen habe, insbesondere die thematischen und unter diesen wiederum "Sprößlinge/ Zöglinge" läßt mich das als unumstößlich ansehen.
  3. Als Alternative bieten sich (unter Berücksichtigung der bisherigen Ausführungen) an:
    • Relativ kleine und überschaubare Bildzusammenstellungen,
    • zu einzelnen Fragestellungen,
    • mit kurzen, einführenden Texten,
    • mit ausgesuchten Bilder, die variierend und konfrontierend ihre Geschichten erzählen (die Fülle des Materials ließe dies zu),
    • durchaus mit Ergänzungen durch Objekte und Dokumente (auch Fotos) - trotz der Fülle wird es nämlich bei den Bildern Lücken geben,
    • unter Verzicht auf umfangreiche Ausdeutungen, da diese - von der oben dargestellten Problematik einmal abgesehen - bestenfalls in einen begleitenden Katalog gehören,
    • gleichwohl ohne Katalog (da dieser wegen urheberrechtlicher Auflagen, deren Befolgung unumgänglich ist, nicht zu finanzieren sein dürfte).